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Pflegschaftssache: erfolgreiche Vertretung der Pflegemutter vor dem Obersten Gerichtshof (9 Ob 19/22t)

21. Juli 2022

In einer Pflegschaftssache – welche zuletzt vor dem Obersten Gerichtshof (9 Ob 19/22t) verhandelt wurde – hat unsere Kanzlei erfolgreich einer Pflegemutter zu ihrem Recht verholfen. Unsere Kanzlei brachte erfolgreich einen Revisionsrekurs gegen den Beschluss des Landesgerichts (zweite Instanz nach dem Bezirksgericht) ein. Die Beschlüsse der Vorinstanzen wurden durch das erfolgreiche Rechtsmittel dahin abgeändert, dass der (Haupt-)Antrag des Pflegevaters, dem Jugendamt als Obsorgeträger und der Pflegemutter aufzutragen, den Wohnsitz des Kindes nicht von Wien weg zu verlegen, abgewiesen wurden.

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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer, Hon.-Prof. Dr. Dehn, Dr. Hargassner und Mag. Korn in der Pflegschaftssache der mj K* B*, geboren am * 2013, wohnhaft bei der Pflegemutter Mag. C* H*, das Kind vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 11, Wiener Kinder- und Jugendhilfe, Pflegekinderzentrum West), 1090 Wien, Wilhelm-Exner-Gasse 5, die Pflegemutter vertreten durch KS Kiechl Schaffer Rechtsanwalt GmbH in Wien, Pflegevater: Dr. H* W*, vertreten durch Dr. Heinz-Peter Wachter, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs der Pflegemutter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 14. Jänner 2022, GZ 43 R 364/21d-77, womit dem Rekurs der Pflegemutter gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 29. Juli 2021, GZ 26 Ps 39/19v-67, teilweise Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss gefasst:

Spruch

Dem Revisonsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der (Haupt-)Antrag des Pflegevaters, dem Jugendamt als Obsorgeträger und der Pflegemutter aufzutragen, den Wohnsitz des Kindes nicht von Wien weg zu verlegen, abgewiesen wird.

Die Pflegschaftssache wird an das Erstgericht zur erstmaligen Verhandlung und Entscheidung über den vom Pflegevater „eventualiter“ gestellten Obsorgeantrag zurückverwiesen.

Begründung

[1] Mit Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 4. 7. 2013 wurde dem Wiener Kinder- und Jugendhilfeträger (kurz: KJHT) die gesamte Obsorge der am * 2013 geborenen K* B* übertragen. Der KJHT betraute die Pflegeeltern Mag. C* H* und Dr. H* W* mit der Pflege und Erziehung des Kindes. Seit der Trennung der Pflegeeltern im Jahr 2016 wohnt das Kind hauptsächlich bei der Pflegemutter.

[2] Im Frühjahr 2021 trug sich die Pflegemutter mit dem Gedanken, mit dem Pflegekind – voraussichtlich im August 2021 – nach Lissabon zu übersiedeln. Der KJHT erklärte dazu, dass aus seiner Sicht unter gewissen Prämissen (Umsetzung eines großzügigen Kontaktrechts durch die Pflegemutter, Mittragen dieser Kontakte durch den Pflegevater) nichts gegen einen Umzug nach Portugal spreche.

[3] Am 22.6.2021 beantragte der Pflegevater, zur Wahrung des Wohls des Kindes sowohl dem Jugendamt (gemeint: dem KJHT) als Obsorgeträger als auch der Pflegemutter aufzutragen, den Wohnsitz des Kindes nicht von Wien weg zu verlegen, in eventu, ihm die alleinige Obsorge über das Kind zu übertragen. Eine Übersiedlung nach Portugal widerspreche dem Wohl des Kindes. Der KJHT habe es unterlassen, die Gemeinschaft, Erziehung, Förderung und die Lebensführung des Pflegevaters mit der Tochter zu evaluieren, und er habe dadurch verabsäumt, eine der Situation gerechte Entscheidungsgrundlage zu erlangen. Jedenfalls sei der Pflegevater bei weitem besser in der Lage, die Obsorge über das Kind auszuüben als der KJHT in Verbindung mit der Pflegemutter, weil aufgrund der unglückseligen Allianz des KJHT mit der Pflegemutter dieser die Ausgrenzung des Pflegevaters weiterbetreibe und damit dem Kind – das aufgrund seiner Situation dringend Bezugspersonen brauche, die die Elternrolle einnehmen würden – nur weiter schade.

[4] Der KJHT erklärte – über die Frage des Erstgerichts, ob der KJHT auch dann seine Befürwortung zum Umzug nach Lissabon aufrecht erhalte, wenn keine gute Lösung hinsichtlich des Kontakts gefunden werde –, dass der KJHT diesbezüglich die Entscheidung an das Gericht übergeben wolle. Es sei natürlich problematisch, wenn die Kontakte in regelmäßiger Form nicht gewährleistet werden und es keine Lösung gebe. Klar sei, dass die Bedürfnisse des Kindes im Vordergrund stünden und man sich hier nach dem richten müsse, was für das Kind am besten sei. Der KJHT sprach sich gegen eine Übertragung der Obsorge über das Kind an den Pflegevater aus.

[5] Die Pflegemutter beantragte, den Anträgen des Pflegevaters keine Folge zu geben. Da das Jugendamt (gemeint: der KJHT) die Übersiedlung nach Portugal uneingeschränkt befürworte, bedürfe es keiner Zustimmung des Gerichts zur Übersiedlung. Diese entspreche auch dem Kindeswohl.

[6] Das Erstgericht trug zur Sicherung des Wohls der Minderjährigen gemäß § 107 Abs 3 AußStrG dem obsorgeberechtigten Wiener Kinder- und Jugendhilfeträger auf, die erteilte Zustimmung zur Verlegung des Wohnsitzes der Minderjährigen außerhalb von Wien zu widerrufen. Überdies verbot es der Pflegemutter, den Wohnsitz der Minderjährigen dauerhaft von Wien weg zu verlegen (Punkt 1 des Spruchs). Dem Beschluss wurde vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zuerkannt (Punkt 2 des Spruchs). Begründend führte das Erstgericht – zusammengefasst – aus, dass die in § 138 ABGB genannten Kriterien für das Kindeswohl bei einem Verbleib des Kindes in Wien bei weitem besser gewahrt werden könnten.

[7] Das Rekursgericht wies den dagegen erhobenen Rekurs der Pflegemutter, soweit er sich gegen den Punkt 2 des Spruchs richtete, zurück. Im Übrigen gab es dem Rekurs, soweit er sich gegen Punkt 1 des Spruchs richtete, teilweise Folge. Der angefochtene Beschluss, der hinsichtlich des Auftrags an den obsorgeberechtigten Wiener Kinder- und Jugendhilfeträger mit der Maßgabe bestätigt wurde, dass zur Sicherung des Wohls der Minderjährigen gemäß § 107 Abs 3 AußStrG dem obsorgeberechtigten Wiener Kinder- und Jugendhilfeträger aufgetragen wurde, eine allfällig erteilte Zustimmung zur Verlegung des Wohnsitzes der Minderjährigen außerhalb von Wien zu widerrufen, wurde im Übrigen teilweise dahin abgeändert, dass der Pflegemutter verboten wurde, den Wohnsitz der Minderjährigen dauerhaft aus Österreich weg zu verlegen.

[8] Unter Hinweis auf die Stellungnahme des KJHT führte das Rekursgericht aus, dass nach der Aktenlage keine Zustimmung des KJHT zu einem Umzug der Pflegemutter nach Portugal vorliege, weil die vom KJHT genannten Bedingungen nicht vorlägen. Da im Verfahren aber offenbar alle Beteiligten davon ausgegangen seien, dass eine Zustimmung des obsorgeberechtigten KJHT vorliege und dieser das Gericht um eine Entscheidung ersucht habe, sei dem Fehlen einer wirksamen Zustimmung durch die Maßgabebestätigung Rechnung zu tragen und eine Entscheidung zu treffen gewesen. Da der weitere Kontakt der Minderjährigen zum Pflegevater im bisherigen Umfang dem Kindeswohl entspreche, dieser aber bei einem Umzug nach Lissabon zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in ausreichendem Ausmaß gesichert sei, sei der Pflegemutter ein Wohnsitzwechsel mit der Minderjährigen ins Ausland zu verbieten. Da der Pflegemutter aber nicht generell untersagt werden könne, aus Wien wegzuziehen, sei dem Rekurs der Pflegemutter in diesem Umfang Folge zu geben gewesen. Da – soweit überblickbar – keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Wohnsitzverlegung eines getrennt lebenden Pflegeelternteils bei Obsorge der Kinder- und Jugendhilfe vorliege, wurde der ordentliche Revisionsrekurs zugelassen.

[9] Erkennbar gegen den antragsstattgebenden Teil des Beschlusses richtet sich der Revisionsrekurs der Pflegemutter mit dem Abänderungsantrag, die Anordnungen an den Wiener Kinder- und Jugendhilfeträger und die Pflegemutter ersatzlos zu beheben. Hilfsweise wurde ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

[10] Der Pflegevater beantragte in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Revisionsrekurs der Pflegemutter nicht Folge zu geben. Der KJHT erstattete keine Revisionsrekursbeantwortung.

Rechtliche Beurteilung

[11] Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt, weil die Entscheidungen der Vorinstanzen einer Korrektur bedürfen.

[12] 1. Der KJHT wurde mit der Obsorge des mj Kindes K* B* betraut (§ 181 ABGB). Die Obsorge umfasst Pflege, Erziehung, Vermögensverwaltung und gesetzliche Vertretung (§ 158 Abs 1 ABGB). Der (allein) Obsorgeberechtigte, dem die Pflege und Erziehung zukommt, hat das alleinige Recht, den Wohnort des Kindes zu bestimmen (vgl § 162 Abs 2 ABGB; Fischer-Czermak in Kletečka/Schauer, ABGB–ON1.05 § 162 ABGB Rz 2, 6; vgl Hopf/Höllwerth in KBB6 zu § 162 ABGB Rz 2 f; 2 Ob 153/12g [Pkt 3]; vgl RS0047936). § 162 ABGB umfasst auch den KJHT (Gitschthaler in Schwimann/Kodek ABGB Praxiskommentar5 § 162 ABGB Rz 2).

[13] 2. Der KJHT betraute mit der Pflege und Erziehung die Pflegeeltern Mag. C* H* und Dr. H* W*. Pflegeeltern sind Personen, die die Pflege und Erziehung des Kindes ganz oder teilweise besorgen (§ 184 ABGB Satz 1). Pflegeeltern sind nicht selbst Obsorgeträger, vielmehr kommt die Obsorge dem KJHT zu (Deixler-Hübner, Obsorge einer anderen Person, in Deixler-Hübner, Handbuch Familienrecht2, 531 [561]). Die Pflegeelterneigenschaft (vgl § 186 ABGB) ist nach der Aktenlage trotz Trennung der Pflegeeltern aufrecht (vgl 3 Ob 165/11b).

[14] 3. Das Verfahren ist von der Besonderheit gekennzeichnet, dass das Erstgericht und die Parteien bis zur Entscheidung des Rekursgerichts davon ausgingen, dass der KJHT dem beabsichtigten Wohnsitzwechsel des Kindes mit der Pflegemutter zugestimmt hat. Dies ist – wie das Rekursgericht zutreffend ausführt und von den Parteien im Revisionsrekursverfahren auch nicht mehr in Zweifel gezogen wird – tatsächlich nicht der Fall. Fehlt aber die notwendige Zustimmung des obsorgeberechtigten KJHT zum Wohnsitzwechsel des Kindes, dann ist dem Antragsbegehren des Pflegevaters, dem KJHT aufzutragen, den Wohnsitz des Kindes nicht von Wien weg zu verlegen, von vornherein die Grundlage entzogen. Ohne bedingungslose und ausdrückliche Zustimmung des obsorgeberechtigten KJHT (oder gegebenenfalls des Pflegschaftsgerichts) ist ein Wohnsitzwechsel des hauptsächlich bei der Pflegemutter wohnenden Kindes nicht zulässig und nicht erlaubt. Da die Aktenlage keine Anhaltspunkte dafür bietet, dass die Pflegemutter dennoch beabsichtigen könnte, unter Verstoß gegen das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) das mj Kind widerrechtlich ins Ausland zu verbringen, besteht auch für die gegenüber der Pflegemutter angeordnete Maßnahme nach § 107 Abs 3 AußStrG derzeit keine Veranlassung (vgl RS0129701).

[15] 4. Da der Pflegevater mit dieser Revisionsrekursentscheidung inhaltlich das erreicht, was er mit seinen Hauptanträgen angestrebt hat, nämlich dass die Pflegemutter den Wohnsitz des Pflegekindes (zumindest derzeit) nicht ins Ausland verlegen darf, könnte erwogen werden, sogleich seinen auf Obsorgeübertragung gerichteten „Eventualantrag“ abzuweisen. Da der Pflegevater aber seinen „Eventualantrag“ überdies darauf gründet, dass er die Obsorge viel besser leisten könnte als der KJHT, könnte der „Eventualantrag“ als – vom Hauptantrag unabhängiger – selbständiger (Haupt-)Antrag verstanden werden. Das Erstgericht wird dies vor allfälliger Entscheidung über den Antrag auf Übertragung der Obsorge des mj Kindes mit dem Pflegevater zu erörtern haben.

[16] Dem Revisionsrekurs der Pflegemutter war daher Folge zu geben und die Anträge des Pflegevaters in Abänderung der Entscheidungen der Vorinstanzen abzuweisen. Die allfällige Entscheidung über den Antrag des Pflegevaters auf Übertragung der Obsorge des mj. Kindes obliegt dem Erstgericht.

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